
Literaturrunde
Ein Blick auf „Tyll“ von Daniel Kehlmann
Alle sechs Wochen treffen wir uns in gemütlicher Runde, um gemeinsam Literatur zu erleben und zu diskutieren. Von Klassikern bis zur modernen Literatur ist alles dabei, und so war es auch am Mittwoch, dem 19. Februar, als uns Prof. Schlachter das Buch „Tyll“ von Daniel Kehlmann näherbrachte.
Ein Schelm in düsteren Zeiten
Kehlmanns Roman spielt zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, einer Epoche, die Europa in Chaos und Gewalt stürzte. Der Krieg ist allgegenwärtig, Hungersnöte und Pest ziehen durchs Land, und mittendrin steht Tyll, eine Figur, die sich jeder Definition entzieht. Er ist Künstler, Narr, Seiltänzer – und Überlebenskünstler. Kehlmann nimmt viele Anleihen an der legendären Figur des Till Eulenspiegel, jenem berühmten Narren, der sich mit Witz und List gegen Obrigkeiten behauptet. Doch Kehlmanns „Tyll“ ist weit mehr als eine klassische Nacherzählung. Der Roman stellt grundlegende Fragen: Wie überlebt man in einer Welt, die von Krieg und Willkür beherrscht wird? Welche Rolle spielen Kunst, Illusion und Geschick, um sich aus gefährlichen Situationen zu befreien? Welche Wahrheit steckt hinter dem Lachen des Narren?
Historische Fakten und postmoderne Erzählweise
Ein spannender Aspekt ist die Verbindung von historischen Fakten mit fiktiven Erzählungen – eine Tradition, die bis zu Walter Scott zurückreicht, dem Erfinder des historischen Romans. Historische Persönlichkeiten wie der sogenannte Winterkönig, Friedrich V. von der Pfalz, und seine Frau Elisabeth Stuart erscheinen im Roman und verweben sich mit der Erzählung, wodurch sich ein faszinierendes Bild jener Zeit ergibt. Doch „Tyll“ ist kein gewöhnlicher historischer Roman. Kehlmann nutzt bewusst Stilmittel der Postmoderne: Die Erzählstruktur ist fragmentiert, die Perspektiven wechseln, und es gibt keine chronologische Abfolge. Stattdessen erleben wir Episoden aus Tylls Leben, die sich zu einem Mosaik zusammenfügen. Eine Frage, die uns an diesem Abend besonders beschäftigte: Hat am Ende etwa der Esel das Buch geschrieben? Ein ironisches Augenzwinkern oder eine tiefere Bedeutung?
Die grosse Frage: Ist Tyll böse?
Die Diskussion nahm immer wieder überraschende Wendungen. Ist Tyll wirklich eine böse Figur, oder ist er schlicht ein Produkt seiner Zeit? Ist er jemand, der Unheil bringt, oder jemand, der den Mächtigen den Spiegel vorhält? Besonders interessant war der Vergleich mit Oswald von Wolkenstein, dem berühmten mittelalterlichen Dichter und Musiker, der ebenfalls als Querdenker galt. Die Kreisstruktur des Romans, die auf raffinierte Weise verschiedene Zeitebenen miteinander verknüpft, verstärkte den Eindruck, dass Tyll sich jeder einfachen Interpretation entzieht. Kehlmanns Werk fordert dazu heraus, über Wahrheit, Erzählperspektiven und die Konstruktion von Geschichte nachzudenken.
Fazit und Ausblick
Unsere Literaturrunde war sich einig: „Tyll“ ist ein vielschichtiger, unterhaltsamer und zugleich tiefgründiger Roman, der zum Nachdenken anregt. Kehlmann spielt mit Sprache, Realität und Fiktion, und genau das macht das Buch so lesenswert. Wer sich für Historisches interessiert, aber auch für raffinierte Erzählstrukturen und Figuren mit Tiefgang, wird an „Tyll“ große Freude haben.
Neugierig geworden? Dann freuen wir uns, euch bei unserem nächsten Treffen zu sehen!
Am Mittwoch, dem 2. April, um 19:30 Uhr
treffen wir uns wieder bei „Klassik um Acht“ und besprechen „Wackelkontakt“, das neueste Werk von Wolf Haas. Haas ist bekannt für seinen einzigartigen Sprachstil und seinen scharfsinnigen Humor – wir sind gespannt auf die Diskussion und freuen uns auf einen inspirierenden Abend!